Einstimmig spricht sich das Plenum des Parteitages der SPD im Dezember 2011 für die Abschaffung der Verjährungsfristen aus. „Und da hat sich die Hannelore Kraft zu mir gesetzt, hat den Arm um mich gelegt. Und da sind Tränen geflossen.“

Offener Brief an:

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen
Stadttor 1
40190 Düsseldorf

Fax: 0211/837-1150
hannelore.kraft@spd.de

HUNGERSTREIK Tag 29

Ihr Schreiben vom 28.06.2012

Sehr geehrte Frau Kraft,

leider haben Sie auf unsere Anfrage, wie sie zur Aufhebung der Verjährungsfristen stehen, noch nicht persönlich Stellung bezogen und ihren parlamentarischen Geschäftsführer eine Antwort ausfertigen lassen. Dementsprechend unpersönlich fällt auch ihr Antwortschreiben auf unsere Anfrage, wie sie zur Aufhebung der Verjährungsfristen stehen, aus. In einem doch sehr ausführlichen Brief verweist der parlamentarische Geschäftsführer vor allem auf die Bemühungen der SPD sexualisierte Gewalt durch Beratungsinstitutionen und diverse Präventionsmaßnahmen einzudämmen. Selbstverständlich  schätzen wir zwar auch die Bemühungen, haben hierin aber wenig Hoffnung auf Erfolg, weil die gesammelten Bemühungen entweder auf Symptome abzielen oder schlicht zu kleinschrittig sind, um wirklich etwas zu verändern. Die Wurzeln sexualisierter Gewalt liegen nach Auffassung von netzwerkB tiefer in unserer Gesellschaft und der Vergangenheit unserer Gesellschaft verborgen. Wir brauchen ein mutigeres Vorgehen und müssen zeigen, dass wir es wirklich ernst meinen, wenn wir sexualisierte Gewalt an den Wurzeln bekämpfen wollen.

Was ist gemeint? Solange Betroffene, die klagen wollen und nach Beweislage klagen können, nicht klagen dürfen, so lange können wir nicht davon sprechen, dass unsere Bemühungen ernst gemeint sind. Es ist doch bezeichnend, dass wir so viele Maßnahmen, die vor allem Geld kosten, beschließen, den Kernaspekt aber außer Acht lassen. Wenn wir einem Betroffenen sagen, der Jahre lang an Depressionen litt, die auf verdrängte sexualisierte Gewalt in der Kindheit zurückgehen, er hätte sich schlicht früher erinnern müssen, dann wirkt unser Rechtssystem kühl, zynisch und vor allem nicht gerecht. Wenn wir diesem Betroffenen dann zwar Hilfen anbieten, ihm aber nicht das Recht geben, die grausamsten Taten, die unsere Gesellschaft kennt, auch in einem fairen Prozess zu thematisieren, dann wirkt all unser Handeln – wie auch die dargestellten Handlungen in ihrem Brief – wie zynische Beschwichtigung.

Verstehen Sie, Betroffene sind tief mit Ihrer Geschichte belastet und bei wahrhafter Auseinandersetzung mit diesem Leid müssen wir dieses ernst nehmen. Wir zitieren daher aus einem Brief einer Betroffenen, die ihr Leid auf netzwerkB veröffentlichte:

„Ich wurde von einem Mann zuhause in der Badewanne unter Wasser gedrückt. Ich war bis zu 6 Jahre alt. Ich wurde von einer Gruppe Männer als kleines Mädchen (älter als 4 oder 5 war ich wohl nicht) sexuell missbraucht. Manches sehe ich nicht. Mein Bewusstsein schützt mich, und macht das Tempo mit dem ich umgehen kann.“

Das Nicht-Erinnern, was viele Betroffene „praktizieren“ schützt die Seele, um bei den grausamen Taten nicht noch weiter Schaden zu nehmen. Wenn Sie, Frau Kraft, nun für die Verjährungsfristen eintreten (gleichwohl Sie eine Verlängerung dieser anstreben) dann werden Sie diesem Schutzmantel nicht gerecht und verlangen kühl diesen Schutzmantel, der nur sehr langsam und behutsam gelöst werden kann (wenn überhaupt) vorzeitig aufzugeben. Diese Ihre Forderung ist für Tausende von Betroffenen vollkommen utopisch. Mit diesem kleinschrittigen Vorgehen, die Verjährungsfristen allenfalls zu verlängern, lassen Sie alle Betroffenen auf der Strecke, die zu dieser Klage aus psychischen Gründen einfach noch nicht bereit sein können. Bei den im oben geschilderten Fall dramatischen Ereignissen bezweifeln wir von netzwerkB so zum Beispiel, dass jemand, der mit 38. Jahren in der Mitte seines Familien- und Berufsleben steht, dieses Risiko – wenn er denn überhaupt die Wahl hätte – in Kauf nehmen würde und den Täter anzeigt. Eine derartige Tat präzise und mit allen Details zu schildern, braucht unendliche Kraft, die Betroffene erst erlangen müssen. Der SPD-Vorschlag, auch wenn Sie ihn gegenüber den anderen Parteien, als radikalsten auszeichnen wollen, wird dieser Thematik unter keinen Umständen gerecht.

Während wir hier debattieren, holt die Betroffenen die Vergangenheit ein (die Vergangenheit, die wir ihnen im Recht verwehren) und wirkt sich ebenso dramatisch auf das ganze Leben aus:

„Mein Leben als Kind bestand daraus, dass ich die Dinge erlebte, die ich erlebte, und dann, wenn Übergriffe stattfanden die Gnade der Dissoziation erfuhr, die mich wegtrug, das heißt, während meines ganzen Lebens, bis langsam nach und nach immer wieder etwas aufbrach, war es als gäbe es nur die helle Seite der Familie und meine ganzen Instinkte und Gefühle wären falsch.
Immer noch ist meine Erinnerung oft verborgen, gibt es blinde Flecken, sind Dinge hinter den Barrieren. Ich habe sehr viele Amnesien, und auch im täglichen Leben, viele Folgen bestehend aus Konzentrationsstörungen, etc.. was mir auf ganzer Linie im ganzem schulischen/beruflichen Bereich sehr viel zu Nichte gemacht hat.
Ich konnte nie Abi machen, war viele Jahre in einer weltanschaulichen Schule isoliert, Mobbing ausgesetzt, jeden Tag über viele Jahre mit Panik und Bauchweh in die Schule und nahm eigentlich dort sowieso nur körperlich teil, weil mein Leben aus ständigem Dissoziieren bestand, was ich erst nach Jahren der Aufarbeitung begriffen habe.“ (http://netzwerkb.org/2012/06/16/so-ging-ich-ohne-abschluss-ab/)

Liebe Frau Kraft, dieses sind nur Auszüge von einem durch den Täter verpfuschten Leben. Die Gnade der Dissoziation, die die Betroffenen vor weiteren Verletzungen schützte, schützt nach gegenwärtiger Rechtslage und auch nach Ihrer vorgeschlagenen Verlängerung der Verjährung bis zum 38. Lebensjahr den Täter. Momentan ist es vor allem so, dass damit der Täter, der den Betroffenen am stärksten traumatisiert, die größte Chance auf Straffreiheit erhält. Auch wenn die SPD – wie ihr Stellvertreter darlegt –  daher die Erhöhung der Verjährung auf 20 Jahre bei gleichzeitiger Hemmung bis zum 18. Lebensjahr fordert, so ist der Glaube, damit Betroffenen zu helfen, verfehlt. Sie schützen mit den verbleibenden Verjährungsfristen die Täter solch grausamer Verbrechen.

Wo soll hier Gerechtigkeit sein? Wo soll hier Vertrauen in unsere Rechtsordnung entstehen? Es wäre so einfach für Sie, sich auf Seiten dieser Betroffenen und aller Betroffenen zu stellen. Der Satz „Die Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt müssen aufgehoben werden“ wäre mit Recht und einfach ausgesprochen, hiermit würden Sie sich zugleich unmissverständlich gegen sexualisierte Gewalt positionieren und die Radikalität und „Besonderheit“ dieses Verbrechens für die Seele anerkennen. Wir brauchen daher keine lange Reden oder Darstellungen anderweitiger Bemühungen. Wir brauchen jemanden, der das Leid der Betroffenen, die durch die Täter verhöhnt werden, endlich anhört und dann auch angemessen anerkennt.

Schauen Sie in die Rechtfertigung ihres parlamentarischen Geschäftsführers, so führt dieser bereits die Gründe für die Aufhebung ins Feld: Es geht um die Wiederherstellung der Rechtsordnung und die Stärkung des Vertrauens der Gesellschaft in die Rechtsordnung. Auch die von ihm angeführte Generalprävention stellt für uns einen gewichtigen Punkt dar. Anders als in dem Schreiben dargestellt, sehen wir von netzwerkB jedoch nicht, dass diese Gründe mit dem zeitlichen Abstand zum Verbrechen an Gewicht verlieren würden.  Die Folgen des Verbrechens betreffen das ganze Leben des Betroffenen. Der Betroffene wird immer wieder von Ängsten und Scham, von Depressionen und Selbstmordabsichten eingeholt werden und er wird es besonders schwer haben, darüber zu sprechen. Bei den massiven Verbrechen an der kindlichen Seele, wie oben dargestellt, müssen wir daher der Gesellschaft endlich zeigen, dass wir mit einer passenden Rechtsordnung die Betroffenen ernst nehmen und dies geht nur mit der Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt.

Liebe Frau Hannelore Kraft Vertrauen in unsere Rechtsordnung entsteht bei vielen nicht, wenn Sie sehen, dass Täter derartig grausamer Verbrechen geschützt werden. Wir von netzwerkB brauchen uns daher nicht mit den spezifischen Details zur konkreten Prävention durch Frauenhäusern, mit K.O.-Tropfen oder Finanzierungsfragen für Hilfsinstitutionen aufhalten, uns geht es um den größten Hebel, um die allererste Gerechtigkeit, die den Betroffenen widerfahren muss. Die Betroffenen brauchen ihr Recht. Wenn Sie, Frau Kraft, hier nicht tätig werden, wird ihnen niemand ihr Engagement gegen sexualisierte Gewalt abnehmen. Treten Sie öffentlich für die vollständige Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt ein, weil Sie damit in erster Linie für das Recht der vielen Betroffenen eintreten und nicht weiterhin indirekten Täterschutz vollziehen und fortsetzen.

Freundliche Grüße

Norbert Denef


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